In der ersten Version hieß die Überschrift „Wie lebte ich in diesem Zustand ein halbwegs normales Leben?“. Aber nichts an diesem Zustand war normal. Nichts in meiner Lebensweise machte es auch nur annährend normal. Das Wort „normal“ würde den Zustand verharmlosen, in dem ich mich in der Hochphase meiner Colitis befand.
Ohne Routine keine coping strategy
Während der Anfangszeit hatte ich noch keine coping strategies (Bewältigungsstrategien), wie ich mit den heftigen Schüben meiner Colitis ulcerosa das Leben bewältigen konnte. Mit den Jahren fand ich Tricks, die meine Situation „erträglicher“ gemacht hatten. „Erträglich“ ist nicht das richtige Wort, vielleicht aushaltbarer. Aber auch das trifft den Kern nicht.
Diese coping strategies für meine Colitis ergaben sich aus Zufallsbeobachtungen und Ausprobieren. Ich brauchte sie, um am Leben teilnehmen und Mutter sein zu können.
Mein Schub veränderte sich ständig: mal hatte ich Schmerzen, mal nicht, mal hatte ich bis zu 40 Durchfälle, mal nur 10, mal nur vormittags, mal Tag und Nacht, mal konnte ich essen, was ich wollte, mal hat Colitis-Schonkost geholfen. Ich hatte nie für lange Zeit die gleichen Symptome.
Einfach nicht mehr essen
In manchen Zeiten habe ich ab 14 Uhr nichts mehr zu essen. Dann konnte ich die Nächte durchschlafen oder musste nur ein Mal in der Nacht raus aufs Klo. Manchmal habe ich damit abgenommen, manchmal aber auch nicht, weil ich bis mittags so viel gegessen hatte, dass es bis zum nächsten Tag reichte. Überkompensation heißt das.
Für mich bedeutete diese coping strategy, dass ich jeden Abend für meine Familie kochte und ihnen am Tisch beim Essen zusah.
Ich bin Oecotrophologin und ich habe diverse Ratgeber über Colitis ulcerosa und passende Kochbücher gelesen. Es gibt viele wichtige Hinweise und Ratschläge. Aber als Betroffene, auch wenn ich vom Fach bin, kann ich sagen, dass der Rat sehr theoretisch ist, bloß nicht mit dem Essen aufzuhören, um eine Mangelernährung zu vermeiden. Ja, die Fachleute haben Recht. Aber praktisch war es für mich unmöglich, etwas zu essen, und sei es Weißtoast mit Marmelade, wenn ich kurz darauf mit extremen Krämpfen auf dem Klo saß. In den schlimmsten Zeiten habe etwa 10% an Körpergewicht verloren, weil ich nicht mehr essen konnte. Ich weiß, dass andere viel mehr abnehmen, die Vergleichsbilder sind oft erschreckend. Es ist nicht gut, mit dem Essen aufzuhören, um Schmerz zu vermeiden, aber ich kann es verstehen. Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
Einfach nicht mehr trinken
In ganz schlimmen Phasen der Colitis-Schübe führte selbst ein Schluck Wasser dazu, dass ich innerhalb von wenigen Sekunden aufs Klo rennen musste. Das bedeutete für mich, dass ich auf Reisen, Wanderungen oder Autofahrten nichts getrunken hatte. Manchmal musste ich eine Stunde vorher aufhören zu trinken, zu anderen Zeiten durfte ich nur währenddessen nicht trinken.
Die Steigerung davon war, dass ich ab 19 Uhr kein Wasser mehr trinken durfte, weil ich sonst nachts mehrfach aufs Klo musste. An die Essenskarenz gewöhnt sich der Körper, aber abends gar nicht mehr trinken zu können, war jeden Tag ein Kampf mit mir selbst.
Mit der copings strategy „nicht trinken“ fuhren wir in schlimmsten Zeiten der Colitis ulcerosa in den Urlaub (Sommerferien richten sich nicht nach Krankheiten). Manche Fahrten dauerten acht Stunden, weil Vollsperrungen dazwischen kamen. Acht Stunden nicht essen und trinken bei 30 Grad und mehr.
Wir wanderten in Sommergluthitze fünf bis sechs Stunden, inklusive Brotzeitpause für die restliche Familie. Ich kam jedes Mal körperlich und psychisch völlig fertig nach Hause. Dann habe ich erst mal einen Liter getrunken, rannte direkt aufs Klo. Danach habe ich gegessen, rannte wieder aufs Klo. Anschließend musste ich mich hinlegen. Nun könnte man als LeserIn fragen: warum gehst du denn dann überhaupt wandern, wenn es dich so anstrengt?
Einfach machen
Ich habe in dieser Zeit so vieles nicht machen können, keine Restaurantbesuche, kein Kaffeetrinken, kein Eis auf die Hand, kein Kino (auch ohne Essen besteht immer die Sorge, gleich rennen zu müssen), kein Stadtbummel, kein Sport, weil die Kraft fehlt. Abends war ich völlig erschöpft vom Tag und ging oft direkt nach den Kindern ins Bett. Zeit für meinen Partner gab es quasi nicht mehr. Hape Kerkeling sagte als Evja van Dampen so schön: „Liebe ist Arbeit, Arbeit, Arbeit.“ Diese Kraft fehlte mir völlig. Mein Mann musste und muss da leider sehr viel aushalten.
Aus diesem Grund habe ich manche Sachen einfach gemacht wie zum Beispiel Wanderungen ohne Essen und Trinken, weil ich dabei sein wollte, lebendig und aktiv. Ich habe manchmal zu viel Wein getrunken, habe abends spät gegessen und in Kauf genommen, dass ich nachts mehrfach raus musste. Ich wusste den Preis vorher, den ich für meine Aktionen bezahlen musste und ab und zu war ich einfach unvernünftig. Manchmal wollte ich einfach dabei sein. Zeit mit meinen Lieben verbringen. Dafür nahm ich gerne auf mich, dass es mir danach schlecht ging. In dieser kurzen Zeit fühlte ich mich dazugehörig, energetisch, wertvoll. Und nicht krank, ausrangiert, behindert und kaputt.
Einfach positiv denken
Durch meine Colitis ulcerosa bin ich ein optimistischer Mensch geworden. Das klingt verrückt. Aber ich habe meinen Kindern immer von den positiven Seiten unseres Lebens erzählt, und dass die ÄrztInnen die richtige Medizin noch nicht gefunden haben oder dass ich doch noch dies und das mit ihnen machen könne. Mein Kopf war auf die schönen Seiten des Lebens programmiert. Als Hilfe für meine Kinder. Und gleichzeitig habe ich so selbst eine optimistische Lebenseinstellung gefunden. Das ist wahrscheinlich die beste coping strategy, die es für schwere Lebensabschnitte gibt. Egal, wie schlecht es mir ging, meinen Kindern erzählte ich von den guten Seiten. Meine Kinder litten und leiden unter meiner Krankheit. Da halte ich mich lieber an das Positive in meinem Leben, und sei es noch so klein.
> Ich kann euch Bücher vorlesen.
> Komm, wir muckeln uns ein und schauen einen Film.
> Ja, ich kann bei dir liegen bleiben, bis du eingeschlafen bist.
Es gibt unendlich viele Beispiele. Und mögen sie noch so klein sein. Richtet Euren Fokus auf das Schöne im Leben. Damit rede ich nicht die Probleme klein. Mein Blog ist voll von furchtbaren Erlebnissen (meine Colitis-Karriere, Anwalt für Sozialrecht). Aber sie bestimmen nicht meine Haltung oder mich als Mensch. Manchmal fühle ich mich einfach scheiße. Auch das ist okay, und es ging bis jetzt immer wieder vorbei.